Dienstag, 19. Dezember 2017

Das 19. Türchen





(K)Eine Weihnachtsgeschichte

Wenn sie mittags aus der Schule kam, rannte sie als erstes ins Wohnzimmer.
Hinter der alten Vitrine, in der Nische zwischen Ober- und Unterbau, hatte sie
ihre kleine Naschecke eingerichtet:
Einen Weihnachtsmann aus Vollmilchschokolade, ein paar bunte Zuckerkringel
und ein rosa Marzipanschweinchen.
Wann isst du das Zeugs endlich mal?, fragte die Mutter fast täglich. Davon,
dass du es Wochen und Monate aufhebst, schmeckt es bestimmt nicht besser.

Doch darum ging es dem Mädchen nicht. Der Gedanke, diese süßen
Leckereien zu verspeisen, war nicht halb so verlockend, wie das tägliche
Betrachten der Naschereien. Selbst der kleine Bruder, der seine Süßigkeiten
spätestens am 2. Weihnachtstag vertilgt hatte, und gern auf die
Näschereien der Schwester schielte, schien akzeptiert zu haben, dass diese
Sachen für ihn tabu waren.
So ging der Januar ins Land und das Mädchen machte keine Anstalten,
irgendetwas von seinen Schätzen zu essen. Das Anschauen wurde zum
täglichen Genuss.

Bis zu jenem 12 Februar. Wie gewohnt lief sie mittags zu ihrem Versteck und
wäre vor Schreck beinahe umgefallen - der Platz war leer!
Wo sind meine Weihnachtssachen?, rief sie - und die Mutter antwortete: Die
haben dein Bruder und ich geschlachtet! - Schlachten war eine ihrer
Redensarten ... Marzipanbrote, Marzipanschweine und Weihnachtsmänner
wurden nicht einfach gegessen, sondern ganz volkstümlich geschlachtet... -
Aber das waren doch meine Sachen!, rief das Mädchen weinend.
Wir dachten, du magst nicht naschen, nachdem die Sachen nun Wochen
und Monate hinter dem Schrank lagerten... Die Schokolade schmeckte schon
ganz muffig... Warum hebst du die Dinge so lange auf! Da musst du dich nicht
wundern, wenn sie eines Tages weg sind...



© Karin Rohner 2005

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